Zeitlosigkeit
In ein kleines Notizheft, dass ich immer dabei habe und das in meinem einfachen, analogen Kalenderringbuch liegt, trage ich Ideen und Eingebungen ein, über die ich mich später irgendwann hermache. In dieser "Texthalde" werden sicher 90% aller Gedanken bis ans Ende aller Tage als solche dort verweilen, ohne je ausgearbeitet zu werden. Einfach, weil die Zeit fehlt und der Gedanke sich nicht derart festsetzt, dass er mich weitergehend beschäftigt.
Anders ist das bei nachfolgender Idee - ganz einfach, weil sie sich an bereits vorhandene Ausarbeitungen mühelos anlagert und wie ein großes, buntes Puzzlestück in das hineinpasst, was mich als nie vollständig übersehbares Gesamtbild stets angetrieben hat und mich immer antreiben wird.
Ich fasse das mal unter dem Begriff "Zeitlosigkeit" zusammen und aufmerksame Leser meiner Text kennen meine Essays zu Entropie und einen Text wie "Zeitloser Engel" aus der Kurzgeschichtensammlung "Bellame". Daran schliesst meine Idee an. Die Zeitlosigkeit erblickt mich in den Gesichtern von drei Frauen, die allesamt früh gestorben sind - die Tragik dessen interessiert mich nicht so sehr, wohl aber die Tatsache, dass es keine Bilder gibt, die diese Frauen im Alter zeigen. Dies, kombiniert mit ihrem Lebensinhalt und kombiniert mit alten Fotos, die junge Frauen zeigen, die heute und bis in alle Zukunft jung, modern, wissend wirken, ist buchstäbliches Sinnbild von Zeitlosigkeit.
Sophie Scholl (1921-1943)
Die erste Frau habe ich bereits verewigt und mich mit ihrem kurzen Leben beschätigt: Sophie Scholl ⧉, der zeitlose Engel, bei der es mir nach wie vor ein Rätsel ist, wie ein junger Mensch so weit blickend, so konsequent menschlich sein kann, dass es für uns alle als Vorbild dienen muss - wer Menschen in die Welt setzt, die gut sein sollen, der müsste die Eltern von Sophie Scholl befragen - die Antworten wären eine pädagogische Blaupause für Zivilcourage, Humanismus und all den Fähigkeiten, die man braucht, die Welt und die Gesellschaft richtig beurteilen zu können.
Jedenfalls ist Sophie Scholl von mir schon mehrfach thematisiert worden. Sie ist zeitlos in ihrer Weitsicht.
Alexandra (1942-1969)
Mit der Schlagersängerin "Alexandra" ⧉ (eigentlich Doris Wally Treitz) wurde ich das erste Mal konfrontiert, als ich vermutlich sieben oder acht Jahre alt war. Meine Eltern, die immer darauf bedacht waren, dass ich brav abends ins Bett ging, liessen mich eines abends länger aufbleiben, denn in der ARD lief eine Sendung, bei der Aufnahmen aus den 50er und 60er Jahren gezeigt wurden. Meine Eltern sagten mir, dass dort eine Sängerin zu sehen sei, die meine Eltern beide sehr mochten. Das schien ihnen wichtig zu sein, dass ich mir das ansehe.
Dann sah ich diesen Auftritt einer schönen, dunklen Frau, mit dunklen Augen - die Aufnahme in schwarz/weiß und die Stimme dunkel und schwarz. Die Titel waren "Zigeunerjunge" und "Mein Freund der Baum". Dann erzählten mir meine Eltern, dass diese Frau 1969 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Ich hörte also eine düstere Stimme aus dem Jenseits - der Text zu "Mein Freund der Baum" hat so gar nichts mit klassischem Gute-Laune-Schlager zu tun und hat mich sehr verstört. Das Ganze war für mich eher gruselig, hat mich aber zum ersten Mal in meinem Leben über Vergänglichkeit nachdenken lassen. Die düstere Stimme hallte noch lange nach. Mit der Zeit habe ich dann nicht mehr darüber nachgedacht ... das hat sich vor kurzem geändert.
Vor einiger Zeit lief eine Dokumentation über den Moderator Robert Lemke. Der ist bekannt geworden, weil er fast 40 Jahre lang die Sendung "Was bin ich?" moderiert hatte. Am Ende eine jeden Folge trat ein prominenter Gast auf, das Rateteam musste Masken aufsetzen, um diesen nicht zu sehen und musste mit gezielten Fragen die Person erraten.
Am 17.12.1968 war Alexandra diese Stargast. Robert Lemke macht am Ende ein kleines Interview mit ihr und da hört man sie sprechen. Die tiefe, dunkle Stimme ihres Gesangs würde man beim Sprechen mit einer lauten, sehr dominanten Stimme assozieren. Das ist aber überhaupt nicht der Fall und das überrascht sehr.
Was für eine schöne Frau! Würde man diese Frau heute, genau so, wieder auftreten lassen, es wäre die gleiche umwerfende Präsenz. Eine wunderbare Gestik, Mimik - man schaue sich nur an, wie sie die erste Rose von Lemke quittiert, wie sie reagiert, als das Rateteam sie errät und wie sie Lächeln und kluge Antworten einzusetzen weiß.
Da ist eine wohl dosierte Bestimmtheit in den Antworten, wenn es darum geht, die persönlichen Ambitionen zu vertreten. Eigentich sollte sie ein Püppchen sein, dass die populären Lieder anderer Komponisten singen sollte, aber sie versucht ihren eigenen Weg zu finden. "Mein Freund der Baum", ein selbstverfasstes Lied, beweist, dass ihr das auch weiterhin gelungen wäre - aber dazu kam es nicht.
Hier ist die Zeitlosigkeit in der Schönheit dieser Frau zu finden. Und in der Fähigkeit - ich würde sagen der Gewissheit - den schmalen Grad zwischen Selbstverwirklichung und äußeren Zwängen beschreiten zu können.
Brigitte Reimann (1933-1973)
Brigitte Reimann ⧉ dürfte zweifellos die wichtigste Schriftstellerin der DDR gewesen sein. Der Staat DDR ist untergegangen. Und Erinnerungen, die man nicht als Zeitlosigkeit verorten kann, verklären sich zu Nostalgie. Möchte man aber jenseits der Nostalgie die Zeitlosigkeit konservieren, dann ist die Literatur dieser Zeit eine "Ankunft im Alltag". Genau so heisst eines der Bücher, die zu Lebzeiten erschienen sind.
Auch hier waren es wieder Fotos dieser Frau, die die Zeitlosigkeit übertragen. Diese Frau könnte man, so wie sie ist, in die Gegenwart hinversetzen und man würde sie brauchen, ihre Präsenz, ihre Fähigkeiten, ihr Talent - und untermauert wird dies mit den Texten, die sie hinterlassen hat.
Ich muss allerdings zu diesem Zeitpunkt gestehen, dass ich noch nicht so viel über das Werk von Brigitte Reimann weiß. Eine Biografie mit dem Titel "Ich bin so gierig nach Leben" und einen Teil ihrer Korrespondenz "Briefe vom Schwarzen Schaf" zeigen auch hier wieder diesen schmalen Grad zwischen Befähigung und äußeren Umständen - letztere haben eine politische Dimension und waren vermutlich ein Drahtseilakt.
Es ist also mehr ein Gefühl beim Anblick der Fotos, welches mir suggeriert, dass diese Autorin in diese Reihe hineingehört. Hier muss ich mir am meisten aneignen. Hier muss diese Idee, wie ich dieses Denkmal setze, erst noch entstehen. Die Richtung jedoch ist klar - sie wird verehert, sie gilt als authentisch (vermutlich eine der wichtigsten Grundlagen für Zeitlosigkeit) und sie hat nicht den Status in der Nachkriegsliteratur, den sie haben müsste.